" Wenn man aus dem Fenster auf die Autobahn schaut und die vorbeifahrenden Autos zählt, dann sind es in einer Minute vielleicht 86, in einer halben Minute 54, in zehn Sekunden vielleicht 15 - in einer hundertstel Sekunde steht das Auto.

Wenn also die Bewegung mit gegen Null strebender Zeit Null ist, ist die Frage nach der polaren Größe der Zeit interessant: Das ist die Energie - besser - die Summe der dem bewegungslosen Körper zuzuordnenden Energien. Das bedeutet, dass bei der Vermittlung des Bildes eines Augenblicks Energien wahrnehmbar sind, die sich in Zeitintervallen umsetzen würden.

Als Mensch kann ich die Energiesumme des statischen Bildes wahrnehmen und in lebendigen Prozessen erleben. "

Ingo Thalmann ist Maler.
Ingo Thalmann ist Lehrer für Mathematik und Physik.
Er ist Pädagoge, der etwas vermitteln will. Er ist auf der Suche nach dem Woher und Wohin des Menschen. Als Künstler, Lehrer, Maler, Mensch stellt Ingo Thalmann durch seine Bilder - in einem Augenblick eingefangene Energien vielschichtiger Bedeutsamkeit (s.o.) - seine Fragen und seine Antworten für das Gespräch mit dem Betrachter zur Verfügung. Thalmann möchte den Dialog. Ihm liegt die Arroganz einer Kunst fern, die den Betrachter sich selbst überlässt und für die Wirkung der künstlerischen Gestaltung kein Interesse aufbringt.

Der Betrachtende gehört zum Bild dazu. Ingo Thalmann: "Mich interessiert das Bild vor dem Bild". Wo es zum Dialog zwischen Bild und Betrachtendem kommt, löst es Gefühle und Gedanken aus. In dem Zitat aus seinem Moskauer Vortrag hat Thalmann die These entwickelt, ein Bild fasse eine Vielzahl unbändiger Energien in einem einzigen Moment zusammen. Die Statik eines Bildes sei jedoch nur scheinbar: In dem Moment, wo das Betrachten Gefühle und Gedanken auslöst, bemächtigt sich das Bild des Betrachters. Es überträgt seine Energien, lässt sie frei. Sie entfalten Wirkung im Betrachtenden. Er wird Teil der "Energiesumme des statischen Bildes".

Dem entspricht, dass Ingo Thalmann seinen Bildern nur ungern Titel gibt. Es ist durchaus möglich, dass er ein und dasselbe Bild unter verschiedenen Titeln veröffentlicht. Worte und Begriffe engen die Vieldimensionalität ein, die sich durch Farben und Formen, Bewegungen und Kontraste, Zitate und Verfremdungen malend ausdrücken lassen. Dennoch malt Ingo Thalmann nicht einfach drauf los. Auch schöpft er seine Bildsprache keineswegs nur aus sich selbst. Seine Malsprache ist zwar individuell und spezifisch, was auch darin seinen Ausdruck findet, dass Thalmann seine Bilder nicht signiert. Zugleich aber weiß er sich streng in Vorfindliches eingebunden.

Dies wird am Entstehungsprozess seiner Bilder deutlich. Sehr oft ist noch klar erkennbar, dass dem Bild eine Kopie von Motiven alter Meister zugrunde liegt. Indem Ingo Thalmann diese Motive übermalt, setzt er sich mit ihnen auseinander. Er beansprucht nicht, völlig Neuartiges und Neues zu erfinden. Im Gegenteil. Thalmann zeigt durch sein malendes Vorgehen, dass unsere Gegenwart immer aus der Vergangenheit hervorgegangen ist. Sie verdankt sich vergangenen Traditionen und muss sich damit auseinandersetzen. Thalmann nimmt ernst, dass menschliche Erkenntnis geschichtlich ist. Gerade so kommt es zu einer neuen Sicht der Dinge.

Ingo Thalmann möchte nicht - wie heute häufig üblich - destruieren. Die Lust an der Destruktion ist ihm fremd. Die Neuinterpretation der alten Motive ist Konstruktion, Veränderung und Aneignung des Vergangenen. Das ist für den Künstler ein kreativer und kräftigender Prozess. " Meine Bilder sind immer- positiv ", sagt Ingo Thalmann gern, nicht weil er die Augen vor der aktuellen Gegenwart verschließt, sondern weil er in dem, wie sie geworden ist, was sie ist, Potential entdeckt, das Grenzen überschreitet.

Diesem Entstehungsprozess entsprechend lässt sich in Ingo Thalmanns Bildern vieles entdecken: eine Auseinandersetzung mit den Traditionen der Kunst, mit Zitaten aus anderen Bildern, Anleihen aus klassischer Mathematik oder der symbolistischen Formensprache, Hinweise auf philosophische Diskurse oder religiöse Erfahrungen und Aussagen zu aktuellen Gegenwartsfragen. Je nach Gestimmtheit wird sich der Betrachter im betrachtenden Dialog auf eins oder mehrere dieser Themen einlassen.

Als Beispiel möchte ich hier die graphische Form der Parabel nennen, die in Thalmanns Bildern wiederholt auftritt. Hier äußert sich der Symbolist und zugleich der Mathematiker Ingo Thalmann. Die Parabel ist einerseits ein Zeichen der Zugehörigkeit, des Abgeschlossenen wie auch des Schutzes. Andererseits symbolisiert sie das sich Öffnende und den fließenden Übergang. Sie bezeichnet damit auch fundamentale Dualität wie z.B. das Gegenüber von Geist und Materie, Himmel und Erde, Energie und Statik, Mensch und Ewigkeit. Im Denken Ingo Thalmanns sind das jedoch keine Gegensatzpaare. Vielmehr behauptet er, dass beide einander bedingen und durchdringen.

Die theologische Wissenschaft würde in diesem Zusammenhang von Inkarnation, Menschwerdung Gottes sprechen, deren Umkehrung die Gottwerdung des Menschen ist. Diese theologische Redeweise ist immer auch als Erinnerung an die ursprüngliche Zusammengehörigkeit des Gegensätzlichen zu verstehen. Damit wird die Möglichkeit thematisch, die eigenen Grenzen zu transzendieren. Dies geschieht häufig in der Form der appellierenden Erinnerung, die Einsicht hervorrufen möchte.

Die 2004/2005 entstandenen neuen Bilder Ingo Thalmanns widmen sich zwei Themenkomplexen: Dem Motiv der Kreuzabnahme und den Erzengeln Gabriel und Michael. Zentral für ihn ist nicht das religiöse Interesse im Sinne kirchlicher Verkündigung, sondern die sich in diesen Themen darstellende Verschränkung von Leid und Leben. In beiden Motiven findet er die Gabe des Lebens dargestellt, die zugleich zur Hingabe wird. Die Endlichkeit menschlichen Lebens wird ebenso thematisch wie die Seele, die durch den Geist immer schon berührt und auf Ewigkeit ansprechbar ist.

Ingo Thalmann findet zu solchen Aussagen nicht durch den philosophischen oder theologischen Diskurs. Auch hat er sich die Themen der Bilder der jüngsten Zeit nicht von einem Theorierahmen her erschlossen, sondern von der Bildsprache der Tradition her. Diese hat er in seiner Sprache verarbeitet. Auf diese Weise ist sein Dialog zwischen Malerei und gegenwärtigem, auch religiösem Selbst- und Weltverständnis entstanden. Auffällig ist, dass ein Künstler am Anfang des 21. Jahrhunderts keineswegs depressiv gestimmt ist, sondern mit seiner Bildsprache freudig erregt, erwartungsvoll und offen der Zukunft entgegensieht und dies verbindet mit dem Appell, das Miteinander von Menschen zu gestalten. Leitend ist hierbei die Einsicht, dass Dualitäten und Widersprüche einander bedingen und letztlich zusammengehören.

Thalmanns Ziel ist erreicht, wenn aus der Betrachtung der Bilder Impulse entwickelt werden für das soziale Miteinander. Zugleich ist er davon überzeugt, dass man dann immer wieder zu diesen Bildern und ihrer eigentümlichen Bildersprache zurück kehren wird, da die Bilder in sich hineinsaugen und sich auch bei mehrfacher Betrachtung nicht erschöpfen, sondern immer neue Einsichten frei geben und immer neu zum Dialog auffordern.

Christoph Künkel aus "Sehnsucht nach Vollkommenheit / Kreuzabnahme"